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Das frühe Ende einer Karriere

Letzte Ausfahrt Burnout

Jürgen Möller (Name geändert) ist unverheiratet, 37 Jahre alt, hat außerhalb seiner Arbeit keine sozialen Kontakte und lebt seit Jahren nur für seine Karriere. Zielrichtung: Steil nach oben. Er hat Betriebswirtschaft studiert, bekam nach dem Studium gleich eine Stelle in seinem Unternehmen als Verantwortlicher für einige Mitarbeiter und arbeitete mit großem Einsatz. Er lebte für seine Karriere mit höchstem Energieeinsatz. Seine eigenen Bedürfnisse hatte er aus den Augen verloren.

Als ich ihn kennen lernte, war er bereits neun Jahre in seinem Unternehmen, hatte Karriere gemacht, täglich mehr als 12 Stunden gearbeitet und war wegen der Arbeit bereits drei Mal umgezogen. Kürzlich hatte er eine neue Abteilung übernommen – mit 140 Angestellten. Für einen Mann mit hochgesteckten Zielen genau das Richtige. Die neue Herausforderung war für Jürgen Möller ein Karrieresprung – und zugleich sein Verhängnis.

Denn mit dem Karrieresprung änderten sich seine Aufgaben schlagartig. Teil seiner neuen Aufgabe war die Koordination eines Unternehmensbereiches, in dem die Mitarbeiter flexibel und nach einem standortübergreifenden Konzept eingesetzt werden sollten. Bislang hatte er seine Mitarbeiter stets so geführt, dass diese sich auch wohl fühlen konnten. Jetzt sollte Jürgen Möller dafür sorgen, dass etwa ein Techniker für einige Wochen von seiner Familie getrennt werden und in einer anderen Niederlassung in einer anderen Stadt Arbeiten übernehmen sollte. Ein anderer sollte als Bauarbeiter plötzlich Bürotätigkeiten machen und wieder ein anderer sollte alle zwei Wochen an einem anderen Ort eingesetzt werden. Dieses Hin und Her war keine Ausnahme, sondern die Regel und extrem belastend für alle.

Die Folge war die, dass alle 140 Arbeiter, die dieses Hin und Her bis dato nicht kannten, wütend auf Jürgen Möller waren. Im Laufe der Zeit wurden einige krank oder gingen mit Hilfe des Betriebsrats in die offene Auseinandersetzung.

Dieser neue Job überstieg die Ressourcen von Jürgen Möller und erzeugte bei ihm negativen Stress – sogenannten Disstress. Dem war er nicht mehr gewachsen. Er schaffte seine Aufgaben nicht mehr wie sonst. Zunächst versuchte er noch bis 22 Uhr zu arbeiten und nahm regelmäßig Arbeit mit ins Wochenende. Dennoch merkte er, dass er seiner Arbeit wohl nicht gewachsen war. Er fühlte sich machtlos, inkompetent und stellte fest, dass er alle enttäuschte. Die Folge war, dass er nicht mehr abschalten konnte, er bekam Schlafprobleme und konnte ohnehin nur noch nach einem Liter Rotwein einschlafen. Nachts wachte er auf und schlief nicht mehr richtig ein. Morgens fühlte er sich wie gerädert. Das alles machte ihn zu einem ziemlich unausstehlichen Chef, der unzufrieden und gereizt zur Arbeit kam.

Doch er kämpfte wie ein Ertrinkender ums Überleben. Es passte ja nicht zu ihm, dass er etwas nicht packte. Diese Fähigkeit zeichnete ihn schließlich aus.
In dieser Phase lernte ich ihn kennen. Diese Phase dauerte einige Monate. Meinen Empfehlungen, Urlaub zu nehmen oder gar zum Arzt zu gehen, um sich für einige Wochen krankschreiben zu lassen, verloren sich in seinem Funktionsmodus. Er sagte: „Eher will ich sterben als aufgeben“. Zu dem Zeitpunkt konnte ich Jürgen Möller nicht bremsen. So ging der Burnout-Prozess weiter.

Jürgen Möller zog sich noch mehr zurück als zuvor. Sein Widerwille gegenüber Kunden, Angestellten, dem Telefon, der E-Mail-Flut wuchs von Tag zu Tag und wich zunehmend einer Resignation und Gleichgültigkeit. Den sich ständig ändernden Marschrouten von oben konnte er nur noch mit Zynismus begegnen. Er hatte keine Lust mehr seinen Job zu machen. Andererseits konnte er sich auch keine Alternativen vorstellen, schließlich war es, seiner Auffassung nach, woanders auch nicht besser. Und zu allem Überfluss hatte er immer häufiger Rückenprobleme. Doch zum Arzt wollte er nach wie vor nicht gehen.
Jürgen Möller war im Burnout gelandet. Er war nur noch erschöpft. Keine Nacht, kein Wochenende, auch kein Urlaub konnten ihm Kraft geben. Seine Batterie war völlig leer gelaufen. Er konnte sich nicht mehr entspannen fühlte sich depressiv und gleichzeitig aggressiv: Er war ständig gereizt und gleichzeitig total erschöpft und schwach. Er war mit seiner Leistung nicht mehr einverstanden, forderte dennoch von sich, weiterhin die Arbeit zu erledigen und nicht aufzugeben. Er konnte nichts mehr fühlen – weder Schmerz noch Freude.

Erst nachdem Jürgen Möller einen Bandscheibenvorfall bekam, konnte er mit gutem Gewissen von der Arbeit fern bleiben. Er kam ins Krankenhaus und war für drei Monate außer Gefecht gesetzt. Jürgen Möller war insgesamt zehn Monate nicht arbeitsfähig, erhielt während dieser Zeit Lohnfortzahlung und Krankengeld, einen dreiwöchigen Klinikaufenthalt, eine anschließende Reha-Maßnahme, physikalische Therapie und ein Coaching

Das Beispiel von Jürgen Möller zeigt: Burnout kommt nicht plötzlich, sondern ist das Ergebnis eigenen Handelns und Denkens ebenso wie äußerer Umstände.

(Autorin: Sigrun Wieske)